Predigt Karin Ott vom 19. Februar 2023

Liebe Gemeinde,

„aus einem jahrhundertealten Baum, aus dem Stamm Isais, spriesst im strengen Winter ein neuer Zweig hervor", schreibt Philippe Roulet vom Schweizer Verlag für kirchliche Kunst über das Bild mit der jungen Eiche, die aus der Mitte eines morschen, uralten Eichenbaumes emporgewachsen ist. Da ist Vergänglichkeit und Tod zu sehen, aber auch neues Leben. Obwohl es jetzt noch Winter ist oder eigentliche wäre, habe ich doch dieses Hoffnungsbild aus einem sonnendurchfluteten Laubwald für diese Februar-Predigt ausgewählt, weil das Bild vom Baum so gut passt zum Predigttext aus dem weisheitlichen Buch der Sprüche 13,12: Hoffnung, die sich verzögert, ängstet das Herz; wenn aber kommt, was man begehrt, das ist ein Baum des Lebens.

So Vieles geschieht auf dieser Welt, was uns ängstet und uns Sorgen bereitet: Krieg und Kriegsdrohungen, Naturkatastrophen und Gesundheitsgefahren. Wir warten auf gute Nachrichten und sehnen uns nach Frieden, Schutz und Sicherheit. Und je länger das Elend andauert und eine Katastrophe auf die nächste folgt, desto grösser wird die Angst und die Ungeduld des langen Wartens:
Hoffnung, die sich verzögert, ängstet das Herz; wenn aber kommt, was man begehrt, das ist ein Baum des Lebens. Und modern übersetzt: Langes Warten macht das Herz krank; aber ein erfüllter Wunsch gibt ihm neues Leben. (GuNa)

Einen Baum des Lebens sehen wir auf dem Photo vom jungen Baum, der aus einem alten hervorwächst. Neues Leben ist entstanden, wo alles tot zu sein schien. Hört dazu die folgende Kurzgeschichte vom russischen Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn. In seinem Hauptwerk „Der Archipel Gulag" beschreibt er detailliert die Verbrechen des stalinistischen Regimes der Sowjetunion bei der Verbannung und systematischen Ermordung von Millionen Menschen im Gulag. 1971 vergiftete ihn ein KGB-Agent unbemerkt mit einem Rizin-Gel, was eine schwere Erkrankung verursachte. Viele seiner Werke handeln vom Überleben, so auch die Novelle „Der Ulmenstamm": „Wir sägten Holz, griffen dabei nach einem Ulmenbalken und schrien auf. Seit im vorigen Jahr der Stamm gefällt wurde, war er vom Traktor geschleppt und in Teile zersägt worden, man hatte ihn auf Schlepper und Lastwagen geworfen, zu Stapeln gerollt, auf die Erde geworfen – aber der Ulmenbalken hatte sich nicht ergeben.

Er hatte einen frischen grünen Trieb hervorgebracht – eine ganze künftige Ulme oder einen dichten, rauschenden Zweig. Wir hatten den Stamm bereits auf den Bock gelegt, wie auf einen Richtblock; doch wagten wir nicht, mit der Säge in seinen Hals zu schneiden. Wie hätte man ihn zersägen können? Wie sehr er doch leben will – stärker als wir!»

Ein Spross aus einem gefällten Baumstamm oder aus einem abgestorbenen alten Baum – neues Leben erwächst dort, wo alles hoffnungslos zu sein schien. So wird der Baum zum Sinnbild für das Wunder des Lebens: der Baum, der seine Wurzeln in die Erde schlägt und seine Äste und Blätter zu den Sternen trägt und so die Verbindung zwischen Himmel und Erde darstellt. Der Baum ist das Gleichnis für das Menschenleben schlechthin: Sein Leben beginnt aus winzigen Anfängen heraus, zunächst in der warmen und feuchten Dunkelheit der Erde geborgen; er tritt klein und zaghaft ans Licht und ist gefährdet; er muss Wurzeln bilden, die ihm die Kraft zum Wachsen geben; er muss sich aufrichten und den Stürmen trotzen; er muss Frucht tragen und anderen Lebewesen Herberge bieten; er wirkt unbesiegbar, aber sein Leben ist verletzlich; ohne Wasser und ohne Licht kann er nicht leben. Er ist das Bild unseres Lebens: der Lebensbaum. Der Baum ist Offenbarung Gottes und Symbol für den Kreislauf des Lebens.

Hoffnung, die sich verzögert, ängstet das Herz; wenn aber kommt, was man begehrt, das ist ein Baum des Lebens. Bei dem alten, abgestorbenen Baum ist gewachsen, was ersehnt wurde: das neue Leben in Gestalt eines jungen Baumes.

So auch wir: Wir stammen von unseren Vorfahren ab, von denen wir nicht mehr viel wissen. Wir kennen Eltern und Grosseltern und wissen von den Urgrosseltern vielleicht nur noch die Namen – immer weiter zurück liesse sich der Stammbaum der Familie verfolgen – auch hier wieder das Bild vom Baum, der sich verzweigt bis in die Gegenwart hinein. Die Menschen, die vor langer gelebt haben, gaben von Generation zu Generation Leben weiter oder innere Werte an ihre leiblichen oder geistigen Kinder. Was sie wohl erlebt haben, wie sie mit Schwierigkeiten, Schicksalsschlägen und unerwarteten Verlusten zurechtgekommen sind? Vielleicht halfen ihnen die Familienbande, vor allem auch die Geselligkeit und das Beisammensein, vielleicht auch mit Erzählungen und Liedern. Darum hier noch eine kurze Erzählung aus dem „Zauberbuch“ von Hans Kruppa: „Das Buch glänzte im Kerzenschein. Mikura nahm es in die Hand und schlug die letzte Seite auf. So tat sie es immer bei Büchern – sie wollte wissen, wie sie endeten, und wenn ihr der Schluss gefiel, las sie es vielleicht von Anfang an. Auf der letzten Seite fand Mikura die Worte: ‚Dieses Buch hat kein Ende. Und es hat keinen Anfang, wie der Tod nicht das Ende des Lebens und die Geburt nicht sein Anfang ist.‘ Und weiter: ‚Der Mensch ist nicht das Haus, in dem er wohnt. Die Seele ist nicht der Körper, in dem sie wohnt. Das Haus zerfällt, der Körper verwelkt – doch die Seele blüht zu immer grösserer Schönheit auf, wenn ihr Sinn erkannt wird. Denn sie ist nicht von dieser Welt und nicht von dieser Zeit. Ihre Erbschaft heisst Unsterblichkeit.‘“ 

Der riesige uralte, nunmehr abgestorbene Baum auf unserem Bild zeigt auch etwas Tröstliches, ja, Österliches: Der Tod ist nicht das Ende. Das Leben geht weiter. Das, was nach Niedergang und Verfall aussieht, bildet nur die "Eierschale" fürs neue Leben, für den jungen kraftstrotzenden Baum, der im Schutz seines Vorfahren gut und sicher gedeihen kann und mit den Wurzeln Kraft zieht aus der Erde und dem Wurzelgrund der Altvorderen. An dem Ort, wo er steht, geht es ihm gut. Und für den jahrhundertealten Baum heisst das: Es geht weiter, es kommt immer noch etwas – denn das Leben hört niemals auf. Amen.