Bettags-Predigt Michael Ott vom 17. September 2023

Demokratie: ein Bekenntnis!

 

Im vorhin gehörten Bettagsmandat der Bündner Regierung wird von den Wirkungen der beiden Grundgedanken Gemeinschaft und Solidarität gesprochen, die unser Staatswesen seit je geprägt und zusammengehalten haben. Regierungsrat Peyer erläutert, wie Fortschritt und Zukunft nur möglich sind, wenn alle solidarisch an Gemeinschaft und Gesellschaft mitbauen.
Dazu passt ein Briefabschnitt, den ich Euch nun vorlesen möchte. Er stammt aus einem Brief, den der Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth geschickt hat und der – wie es selten in einem Bibeltext vorkommt – direkt und ohne Schnörkel zur Sache kommt. Das Thema ist genau die Frage eines funktionierenden Gemeinwesens und wir müssen dazu nur noch wissen, dass die Korinther ziemlich zerstritten waren, bei ihnen Gegensätze zwischen Armen und Reichen aufgebrochen waren und sie durch die Krisen der Zeit samt einem reichhaltigen Angebot an alternativen Heilslehren und Gurus völlig verunsichert waren. In diese Situation hinein entwirft Paulus ein anschauliches, geniales und auch fein humorvolles Bild: Das Bild von dem einen Leib und den vielen Gliedern.

 

Ich lese dazu aus der ökumenischen Einheitsübersetzung die Verse 12 bis 27 aus dem zwölften Kapitel des 1. Korintherbriefes:
12 Der Körper des Menschen ist einer und besteht doch aus vielen Teilen. Aber all die vielen Teile gehören zusammen und bilden einen unteilbaren Organismus. So ist es auch mit Christus: mit der Gemeinde, die sein Leib ist.
13 Denn wir alle, Juden wie Griechen, Menschen im Sklavenstand wie Freie, sind in der Taufe durch denselben Geist in den einen Leib, in Christus, eingegliedert und auch alle mit demselben Geist erfüllt worden.
14 Ein Körper besteht nicht aus einem einzigen Teil, sondern aus vielen Teilen.
15 Wenn der Fuss erklärt: »Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht die Hand bin« – hört er damit auf, ein Teil des Körpers zu sein?
16 Oder wenn das Ohr erklärt: »Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht das Auge bin« – hört es damit auf, ein Teil des Körpers zu sein?
18 Nun aber hat Gott im Körper viele Teile geschaffen und hat jedem Teil seinen Platz zugewiesen, so wie er es gewollt hat.
19 Wenn alles nur ein einzelner Teil wäre, wo bliebe da der Leib?
20 Aber nun gibt es viele Teile, und alle gehören zu dem einen Leib.
21 Das Auge kann nicht zur Hand sagen: »Ich brauche dich nicht!« Und der Kopf kann nicht zu den Füssen sagen: »Ich brauche euch nicht!«
22 Und gerade die Teile des Körpers, die schwächer scheinen, sind besonders wichtig.
24 Gott hat unseren Körper zu einem Ganzen zusammengefügt
25 und er wollte, dass es keine Uneinigkeit im Körper gibt, sondern jeder Teil sich um den anderen kümmert.
26 Wenn irgendein Teil des Körpers leidet, leiden alle anderen mit. Und wenn irgendein Teil geehrt wird, freuen sich alle anderen mit.
27 Ihr alle seid zusammen der Leib von Christus, und als Einzelne seid ihr Teile an diesem Leib.

 
Liebe Bettags-Gemeinde
Gleicht unser heutiges Lebensgefühl nicht in vielem – trotz der immensen zeitlichen Distanz – dem damaligen Lebensgefühl in Korinth? Wer von uns ist nicht von der Verunsicherung und Unruhe der momentanen Zeitläufte betroffen – auch wir in der Schweiz? Die Gegensätze werden schärfer sichtbar und in allen Bereichen unserer Gesellschaft – in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kirche – härter ausgetragen. Vieles, was bislang Geborgenheit und Sicherheit gab, hat wirklich oder scheinbar ausgedient. So macht man sich auf die Suche nach Neuem: neue Weisheitslehren, neue philosophische Denkrichtungen, alternative Heilungsmöglichkeiten für medizinische und gesellschaftliche Probleme; neues Heil wird in Fülle versprochen und angeboten. Das Angebot ist so gross und unüberschaubar geworden, dass viele auch bei uns, wie damals in Korinth, nicht wissen, welche Heilslehren sie übernehmen sollen, welche Denkrichtung Bestand hat, welchen Menschen sie vertrauen können – der Begriff „fake news“ ist ein sprechendes heutiges Sinnbild dieser Verunsicherung. Und spüren wir neben den aktuellen und sich nahtlos folgenden Krisen wie der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine nicht immer mehr auch die tiefe Erschütterung durch die Umweltkrise, wo wir spüren, dass wir unsere Komfortzone verlassen müssten und das am liebsten nicht wahrhaben wollen und so gerne glauben würden, dass es doch gar nicht so schlimm sei und komme?

In eine solch tiefe Verunsicherung hinein schrieb Paulus seinen Brief mit dem Sinnbild von dem einen Leib mit seinen vielen verschiedenen, starken und schwachen Gliedern; und es ist, wie wenn er dabei auch an ein demokratisches Staatswesen gedacht hätte. So ein Leib, so ein Ganzes, kann nur Bestand haben, meint Paulus in seinem Bild, wenn seine Glieder, seine Gruppen von Mitgliedern bei aller Konkurrenz und Gegnerschaft ein Minimum an Zusammenspiel, ein Minimum an Solidarität einhalten. Wo das nicht gewährleistet bleibt, driftet alles zentrifugal auseinander. Nach diesem Leib-Modell – so die Konsequenz – wäre es nicht möglich, Vertreterinnen und Vertreter anderer Denkrichtungen zu verurteilen und abzuwerten, sondern sie würden vielmehr als Mitglieder in dem einen Leib ernstgenommen und ihre Sichtweisen in die Behandlung anstehender Fragen und Probleme fruchtbringend integriert. Uns mag die Nähe des Paulus zu demokratischen Strukturen freuen – gerade auch in diesen Tagen, wo wir das 175-Jahre-Jubiläum unserer Bundesverfassung von 1848 gefeiert haben, die das Fundament zur heutigen modernen Schweiz gelegt hat – zugleich erkennen wir aber, wie gross die Verpflichtung ist, die uns dieses Modell von dem einen Leib in Staat und Kirche auferlegt, wie sehr wir ihm Sorge tragen müssen: denn Entsolidarisierung ist diesem System gänzlich fremd, ist der Untergang eines solchen Leibes.

Wie es Paulus anschaulich verdeutlicht:
Wenn der Fuss erklärt: »Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht die Hand bin« – hört er damit auf, ein Teil des Körpers zu sein?
Oder wenn das Ohr erklärt: »Ich gehöre nicht zum Leib, weil ich nicht das Auge bin« – hört es damit auf, ein Teil des Körpers zu sein?

Aussteigen aus diesem Leib, aus diesem Boot ist nicht möglich. So kommt es also auf ein kluges und bewegliches Zusammenspiel der untrennbar miteinander verbundenen Glieder an. Vor allem auch, das Zusammenspiel zwischen den stärkeren und schwächeren Gliedern zu schulen und sie nicht einem ruinösen Kampf aller gegen alle zu überlassen. Eine Gesellschaft, ein Staat also, in dem das Zusammenleben von gegenseitiger Loyalität geprägt ist, vom Einfühlen in den anderen, von fundamentalem Wohlwollen. Paulus beschreibt diese Vision, dieses Ziel am Schluss unseres Predigttextes:
Wenn irgendein Teil des Körpers leidet, leiden alle anderen mit. Und wenn irgendein Teil geehrt wird, freuen sich alle anderen mit.
Ihr alle seid zusammen der Leib von Christus, und als Einzelne seid ihr Teile an diesem Leib.

Ist das nicht eine wunderbare Vision? Und würde es sich nicht lohnen, nicht nur in Festtagsreden wie heute oder am 1. August, sondern tagtäglich im Alltag für eine solche Gemeinschaft einzustehen, sich an ihr auch zu beteiligen? Glauben wir noch daran, dass sich dieses paulinische Leib-Christi-Modell gerade auch heute in unserer demokratischen Staatsform ein Stück weit verwirklichen lässt, oder lassen wir uns, sobald es schwierig und mühsam wird, sofort verunsichern und verängstigen?

Wir sollen aber nicht ängstlich und mutlos, sondern mit Überzeugung, Kraft und Phantasie die Herausforderungen unserer Zeit angehen. Und so möchte ich schliessen mit einem humorvollen Gedicht, das der deutsche Dichter Christian Morgenstern für uns alle geschrieben hat, die wir bisweilen zaudern und zagen, anstatt das im Zusammenspiel mit anderen als richtig und not-wendend Befundene tatkräftig anzugehen. Das Gedicht heisst "Gespräch einer Hausschnecke mit sich selber":
Soll i aus meim Hause raus?
Soll i aus meim Hause nit raus?
Einen Schritt raus?
Lieber nit raus?
Hausenitraus -
Hauseraus
Hausenitraus
Hausenaus
Rauserauserauserause ...
(Die Schnecke verfängt sich in ihren eigenen Gedanken, oder vielmehr gehen diese mit ihr dermassen durch, dass sie die weitere Entscheidung der Frage verschieben muss.)

Schieben wir die Probleme unserer Zeit nicht mehr vor uns her, gehen wir also voran, brechen wir auf, verlassen wir da, wo es not tut auch bisherige Komfortzonen, alle zusammen und in abgesprochenem Zusammenspiel, in Gottes Namen, in seinem Auftrag und mit seinem Segen. Unsere Welt wartet darauf. Amen.