Predigt zum Nahost-Konflikt von Michael Ott vom 15. Oktober 2023

"Die Stadt des Friedens"

Ein Mann hatte zwei Söhne
Und als er starb, bekamen beide die Hälfte seines Landes.
Der eine Sohn war reich,
aber er hatte keine Kinder,
der andere hatte sieben Söhne und war arm.
In dieser Nacht konnte der reiche Sohn nicht schlafen.
Mein Vater hat sich geirrt, dachte er,
denn ich bin reich, aber mein Bruder ist arm
und hat kein Land für so viele Söhne.
Und er stand auf und machte sich auf den Weg,
um noch vor dem Morgengrauen
die Grenzpfähle zu versetzen.
Auch der arme Sohn lag in dieser Nacht wach.
Mein Vater hat sich geirrt, dachte er,
denn ich habe meine sieben Söhne,
aber mein Bruder ist einsam – und er stand auf
und machte sich auf den Weg,
um noch vor dem Morgengrauen
die Grenzpfähle zu versetzen.
Als der Tag anbrach, begegneten sie einander.

Ich sage euch, an dieser Stelle
wird die Stadt des Friedens entstehen.

Huub Oosterhuis

 

Eine wunderbare Geschichte – und daneben die furchtbare Realität! Dieser entsetzliche Überfall der ultraradikalen Hamas-Terrororganisation auf Israel, der jetzt wohl alle noch so zaghaft keimenden Friedensbemühungen zwischen Israel, den Palästinensern und der arabischen Welt wieder für Jahre oder gleich Jahrzehnte erstickt – genau was diese barbarischen Terroristen und ihre Hintermänner wollen!
Welch furchtbare Tragik – und dabei berichtet uns schon die Bibel, wie eng Araber und Juden doch miteinander verwandt sind. Der Vater ist Abraham – sein erstgeborener Sohn Ismael, der Stammvater der Araber, sein zweitgeborener Isaak, der Stammvater der Juden. Salaam, Frieden, ist der arabische Gruss – Schalom, Frieden, der jüdische. Bei Ismael und Isaak geht es um das Erbe: wer bleibt im elterlichen Haus, wer muss sich auswärts Land suchen, eine neue Existenz aufbauen? Den Segen Gottes bekommen sie indes in der alttestamentlichen Geschichte ausdrücklich beide.
Und heute leben beide Volksgruppen wieder im gleichen Land Palästina, dem verheissenen Land: Wer darf es erben, wer wird hingegen vertrieben?
Die Tragik in diesem Konflikt besteht unter anderem auch darin, dass beide historisch sich im Recht fühlen, wohl auch im Recht sind:
Denn den Arabern hatte man 1915 auf der einen Seite in der sogenannten Hussein-McMahon-Korrespondenz einen eigenen arabischen Nationalstaat in Palästina versprochen, wenn sie die Briten im Kampf gegen ihre Besatzer, die Osmanen, unterstützten. Viele Juden lasen hingegen auf der anderen Seite aus der Balfour-Deklaration des britischen Aussenministers von 1917 ebenfalls das Recht auf einen eigenen Staat in Palästina heraus. Im Hintergrund hatte Großbritannien in dem geheimen Sykes-Picot-Abkommen anfangs 1916 jedoch mit Frankreich bereits einen anderen Aufteilungsplan abgesprochen, in dem die Unabhängigkeit sowohl eines arabischen, als auch jüdischen Staates in keiner Weise wirklich in Betracht gezogen wurde. Der Grundstein des bis heute andauernden Nahost-Konflikts war gelegt.
Wie können nun Israelis und Palästinenser auch vor diesem Hintergrund ernsthaft miteinander ins Gespräch kommen? Wie könnten sie dazu kommen, die Geschichte, das Recht und das Erbe des anderen anzuerkennen und zu respektieren? Und auf dieser Basis dann miteinander selbstbestimmt an einer zukunftsfähigen Lösung zu arbeiten – ohne dass ihnen die Grossmächte wieder alles aus der Hand nehmen?

 

Text: Gen 4,1-16

Die Feindschaft zwischen Juden und Arabern – also auch eine Familiengeschichte, ein alter, immer wieder aufflammender Bruderzwist? Wir haben von Ismael und Isaak gehört – eine Generation später wiederholt sich der Streit um das Erbe bei den Brüdern Esau und Jakob. Der bekannteste Bruderzwist in der Bibel ist indes ein anderer, gleich zu Beginn: Kain und Abel. Ich lese Euch den Bericht aus dem ersten Buch Mose, der Genesis, als heutigen Predigttext.

1    Der Mensch aber wohnte seinem Weibe Eva bei, und sie ward schwanger und gebar den Kain. Da sprach sie: Ich habe einen Sohn bekommen mit des Herrn Hilfe.
2    Und weiter gebar sie den Abel, seinen Bruder. Abel ward ein Schäfer, Kain aber ward ein Ackerbauer.
3    Es begab sich aber nach geraumer Zeit, dass Kain von den Früchten des Ackers dem Herrn ein Opfer brachte.
4    Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Schafe dar und von ihrem Fette. Und der Herr sah wohlgefällig auf Abel und sein Opfer,
5    auf Kain aber und sein Opfer sah er nicht. Da ergrimmte Kain gar sehr und blickte finster.
6    Und der Herr sprach zu Kain: Warum ergrimmst du, und warum blickst du so finster?
7    Ist's nicht also? Wenn du recht handelst, darfst du frei aufschauen; handelst du aber nicht recht, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir steht ihre Begierde; du aber sollst Herr werden über sie!
8    Darauf sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
9    Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiss nicht. Bin ich denn meines Bruders Hüter?
10    Er aber sprach: Was hast du getan! Horch, das Blut deines Bruders schreit zu mir empor vom Ackerland.
11    Und nun - verflucht bist du, verbannt vom Ackerland, das seinen Mund aufgetan hat, aus deiner Hand das Blut deines Bruders zu empfangen.
12    Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht mehr geben: unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.
13    Da sprach Kain zu dem Herrn: Meine Strafe ist grösser, als ich sie tragen könnte.
14    Siehe, du vertreibst mich heute vom Ackerland, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; unstet und flüchtig muss ich sein auf Erden. So wird mich denn totschlagen, wer mich antrifft.
15    Der Herr aber sprach zu ihm: Nicht also! Wer immer Kain totschlägt, an dem wird es siebenfältig gerächt. Und der Herr versah Kain mit einem Zeichen, dass keiner ihn erschlüge, der ihn anträfe.
16    Also ging Kain hinweg vom Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, östlich von Eden.

Liebe Gemeinde!

Wie aktuell diese alte biblische Geschichte ist, braucht im Moment angesichts der furchtbaren Kriegsschauplätze auch über den Nahen Osten und die Ukraine hinaus leider gar nicht besonders betont zu werden: Es stellt sich täglich und weltweit die Frage, ob es uns Menschen endlich gelingt, unsere Konflikte anders als mit Gewalt zu lösen. Unser heutiges Waffenarsenal ist ja nur die Verlängerung von Kains Keule. Darum wollen wir heute miteinander auf diese alte Mordgeschichte hören, die aber nicht einfach von einer frühen Familientragödie erzählt oder von einem miserablen, moralisch verworfenen Kain, von dem wir uns bequem distanzieren könnten; nein, diese Geschichte sagt aus tiefer Menschenkenntnis heraus vor allem eines: Solches passiert, weil wir Menschen auch so sein können, aber wir werden von Gott nicht einmal in unserer Mordwelt drin im Stich gelassen.
Ich möchte drei verschiedene Punkte zu dieser alten Erzählung herausgreifen – der historische Kern der Erzählung, ihre allgemeine menschliche Bedeutung und ihre Aktualität für eine hoffentlich wieder friedlichere Zukunft.
Zuerst also, was historisch dahintersteckt: Es ist der Gegensatz zwischen den Nomaden und den Sesshaften, dem Hirten und dem Bauern, und der gefährliche Kampf um den Boden. Seit Jahrtausenden zogen Stämme und Familien im Vorderen Orient mit ihren Herden von Weideplatz zu Weideplatz. Wir kennen das aus der Vorgeschichte Israels von Abraham, Isaak und Jakob. Dann wurde der Getreideanbau entdeckt, da zäunte man zum ersten Mal Land ein, grenzte es ab und erklärte: "Das gehört jetzt mir allein!"
Für die Nomaden war – und ist das bis heute – ein Riesenschock: Land, das sie mit ihren Herden seit Urzeiten abgeweidet haben, wird eingezäunt und sie werden daraus vertrieben! Dass das Streit gegeben hat, ist sehr zu begreifen. Bis heute ist das Problem des Land-Wegnehmens – überall auf der Welt – eine der Hauptursachen heutiger Hungersnöte, von Flüchtlingselend und Verelendung von Millionen Menschen auf unserer Erde; eine Folge davon ist Hunger, ein weltweiter Skandal, aus dem das Blut Abels zum Himmel schreit.
Israel war zuerst auch ein Hirtenvolk, das am Sinai den Wüstengott Jahwe verehrte. Das taten die Keniter, eben der Kainsstamm, auch; die Keniter sind aber offenbar vor den Israeliten sesshafte Bauern geworden. Und es muss zwischen diesen beiden Stämmen, obwohl sie an den gleichen Gott glaubten, wüste kriegerische Auseinandersetzungen gegeben haben; die Bibel ist voll von Kämpfen Israels gegen Amalek, ein Volk, zu dessen Stämmen eben die Kainsleute gehörten. Die Sesshaften waren offenbar stärker als die kleinen nomadisierenden Hirtenstämme, eben: der Kain tötet den Abel. Aber später muss sich das Blatt gewendet haben, Israel, also Abel gewann die Auseinandersetzungen, die Keniter sind wieder "unstet und flüchtig" geworden, sogar von "Gottes Angesicht" musste Kain weg, d.h. weg von dem Ort, an dem Israel seinen Gott Jahwe verehrte. Darum nimmt auch in unserer Geschichte aus der hebräischen Bibel, Gott das Opfer des Abel an und das des Kain nicht.

Aber – und damit sind wir bei der zweiten Bedeutungsschicht, bei der allgemein menschlichen Bedeutung, die auch uns und unsere Zeit direkt angeht: Israel wird sich immer mehr bewusst, dass sein Jahwe auch der Gott seiner Feinde, der Keniter ist und dass sie das verbindet. Unser Bericht beschreibt ein Schutzzeichen von Gott, das sprichwörtliche Kainszeichen, das die Unterlegenen vor den Siegreichen schützen, weiteres Blutvergiessen verhindern soll. Der Hintergrund, die Erklärung dazu ist folgendes:
Die ersten Könige von Israel, Saul und David, waren immer wieder in Nachbarschaftskriege gegen die Amalekiter, eben die Kainsleute verwickelt. Unser Text ist genau zu dieser Zeit am Königshof von David und Salomo geschrieben worden, als tapfere Warnung, dass es nicht so weitergehen könne, dass Krieg nur immer wieder zu weiterem Krieg führe. Der kluge und mutige Chronist, der mit seinem Bericht riskierte, einen Kopf kürzer gemacht zu werden, sagt, dass sich die Rollen jetzt vertauscht hätten, dass Israel zum Kain und die Amalekiter zu Abel geworden seien – und dieses Spiel mit immer wieder vertauschten Rollen ewig so weitergehen würde, wenn es nicht gestoppt werde.
"Soll ich denn meines Bruders Hüter sein?" legt er Kain in den Mund – das Wort "Bruder" kommt sechs Mal in dieser Mordgeschichte vor. Kain will damit wie einen Wortspiel-Witz machen: "Ich muss doch einen Hirten nicht hirten, nicht hüten!" Bei uns würde dasselbe so tönen: "Was geht es mich an? Ja nicht einmischen! Jeder ist sich selbst der Nächste!" – und unsere Welt sieht auch ganz danach aus!
Aber der damalige Hofchronist sagte damals und sagt heute: Wir alle sind und bleiben Schwestern und Brüder, Geschwister weltweit unter dem gleichen Himmel, unter Gottes Schutzzeichen, das immer auch auf der Stirne des Gegners ist, deswegen müssen wir mit den uns Nahe- aber auch den uns Fernstehenden in Frieden zu leben versuchen! Jesus hat darum sogar von Feindesliebe geredet; diese Aufgabe haben wir bis heute noch nicht gelöst, aber sie ist zur Überlebensbedingung auf der Erde geworden, ob wir das nun wahrhaben wollen oder nicht!
Merkwürdig in unserer Geschichte ist auch: Die zwei Brüder opfern an getrennten Altären, der Brudermord geschieht, weil der eine dem anderen Gottes Liebe und Anerkennung missgönnt; der Mord passiert gleichsam auf dem Heimweg aus der Kirche. Getrennte Altäre, wie heute immer noch Katholiken und Reformierte, die doch im Glauben eins sein sollten! Im Zeitalter des Weltethos, wo wir immer klarer sehen, wie eng alle Religionen miteinander verwandt sind, im Kern sämtlich auf die Goldene Regel und Ehrfurcht vor der Schöpfung hinauslaufen!

Und damit sind wir beim Dritten und Letzten, der Aktualität für unsere gemeinsame Zukunft: Wie haben die Menschen damals das Problem zwischen Kain und Abel, zwischen Sesshaften und Nomaden gelöst?
Antwort: Mit einer genialen Regel, die nicht nur in Nahost, sondern auch in Afrika oder Südamerika zum Teil bis heute praktiziert wird – dem heiligen Gesetz des Weidwechsels, des Weidrechtes, das lautet folgendermassen:
Im Herbst (in der Regenzeit) sind die Hirtenstämme am Wüstenrand, und die Bauernvölker im Kulturland säen ihre Felder an. Im Frühling (in der Trockenzeit) ernten die Bauern, und die Hirten weiden deren Felder mit ihren Herden nachher ganz ab und düngen sie so auf natürliche Weise. Und so leben sie in Frieden miteinander seit tausenden von Jahren, und der Boden gehört beiden Volksgruppen, allen gemeinsam von ihrem Schöpfer anvertraut. Und sie sind Geschwister, einander vom gleichen Gott geschenkt mit dem Schutzzeichen von ihm an der Stirne.
Und das, liebe Gemeinde, ist unsere Zukunftsaufgabe: Dieses Schutzzeichen Gottes an der Stirne unserer Mitmenschen, an der Stirne anderer Völker zu sehen! Es ist tatsächlich auch das Zeichen der Taufe, das Kreuz Jesu, der von sich selber gesagt hat: "Ich bin der gute Hirte!" Er möchte, dass wir Menschen einander Weidrecht geben, unsere Konflikte anders als mit Gewalt und Töten austragen, weil wir alle von ihm getauft worden sind, d.h. Gottes Geschöpfe sind; er nimmt uns gegenseitig voreinander in Schutz.

Ja – und jetzt der Nahostkonflikt?
1947, 30 Jahre nach der schon erwähnten Balfour-Erklärung, beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat. Am 14. Mai 1948 verkündete David Ben-Gurion die Unabhängigkeit des Staates Israel. Darauf reagierten die Araber nicht etwa mit der Gründung eines palästinensischen Staates (der wurde erst 1988 von der PLO im Exil ausgerufen), sondern mit Krieg. Sie versuchten das israelische Staatsgebiet militärisch zurückzuerobern. Bisher ohne Erfolg. Der Konflikt zwischen Israelis und Arabern ist ungelöst. Bis heute. Doch er ist massgeblich auch eine Folge des europäischen Kolonialismus. Der koloniale Blick der Briten und des Westens auf Palästina hat jene Konflikte provoziert, unter denen die Menschen der Region bis heute leiden. So sind auch wir in der Verantwortung, alles zu tun, um an der Lösung dieses Konfliktes mitzuhelfen, damit einer weiteren Instrumentalisierung der Palästina-Frage durch Dschihadisten und andere Terroristen, wie jetzt die Fanatiker der Hamas, Einhalt geboten werden kann.
Aber um das zu ermöglichen, müssten wir alle, die nicht dort leben, müsste alle Regional- und Weltmächte auch einmal ihre eigenen Interessen zurückstellen und Frieden ernsthaft befürworten, als ehrliche Makler auftreten. Sie müssten Abschied nehmen von dem Geist, den die Balfour-Erklärung atmet, der mit dem Schicksal anderer auf grösstmöglichen eigenen Gewinn spekuliert. Ohne solch selbstsüchtiges Spekulieren wäre eine Lösung – ob nun als Ein-, Zwei- oder Dreistaatenmodell – ganz sicher möglich, denn die grosse Mehrheit der Zivilbevölkerung in der ganzen Region – Israelis wie Palästinenser – wünscht sich seit vielen Jahrzehnten nur eins: Frieden!

"Soll ich meines Bruders Hüter sein?" Ja, das soll ich, für das sind wir zusammen auf dieser Erde. Helfe uns Gott selber, solche Friedensstifter zu werden, in der Nähe und in der Ferne. Amen.