Predigt Michael Ott vom 27. Februar 2022

Zachäus ändert sich

 

Liebe Gemeinde,

 

Jedes Jahr schreibe ich diesen Satz im Religionsunterricht zum Thema "Vorurteile" an die Wandtafel: "Geben wir unseren Mitmenschen die Chance, sich aus den Schubladen, in die wir sie gesteckt haben, zu befreien. Jeder Mensch hat jeden Tag die Möglichkeit, sich zu ändern!" Dieser Optimismus ist mir im Verlauf dieser Woche gründlich abhanden gekommen. Dass sich der russische Präsident von seinem wahnwitzigen Zerstörungskurs in der Ukraine und seinem Weltherrscher-Wahn insgesamt abbringen lassen könnte, ist wohl im Moment so unvorstellbar, wie es in dem Witz aus dem Prag des Jahres 1968 zum Ausdruck kommt:

Ein ausländischer Reporter fragt in Prag einen Tschechen, ob er sich den Abzug der Russen aus der Tschechoslowakei vorstellen könne. Der Tscheche antwortet: "Es gibt eine natürliche und eine übernatürliche Möglichkeit. Die natürliche ist, dass viele Engel vom Himmel kommen, von denen jeder einen Russen bei der Hand nimmt und ihn ausser Landes führt. Die übernatürliche ist, dass die Russen von selber gehen."

 

Ich habe die biblische Geschichte von Zachäus, der sich noch “ und zwar zum Positiven “ verändern kann, anfangs Woche als Predigt für heute ausgewählt, weil ich da noch die Hoffnung hatte, der Krieg in der Ukraine würde nicht eskalieren und der russische Präsident würde letztlich doch noch Interesse an einer Verhandlungslösung haben. Das hat sich am Donnerstag endgültig als falsche Hoffnung herausgestellt. Ich wollte aber trotzdem an dieser Geschichte festhalten, auch wenn sie im Moment von einer Hoffnung wider besseres Wissen redet. Wir haben ja auch vorhin zu Gott gebetet "in der tröstlichen Gewissheit, dass du dich am Ende als mächtiger erweist als die Mächtigen dieser Erde." So lade ich Euch ein, trotzdem auf die Geschichte von Zachäus zu hören, der durch eine wunderbare Begegnung ins Leben und zu den Menschen zurückfindet “ auch wenn sie im Moment nichts, aber auch gar nichts mit dem russischen Präsidenten zu tun hat. Dass dieser die sich täglich bietende Chance zur Umkehr doch noch ergreifen und zur Vernunft kommen möge, darauf wollen wir hoffen und unseren Beitrag dafür leisten “ den Menschen in der Ukraine und der ganzen Welt zugute.

 

Zachäus ändert sich (Lk 19,1-10):

1 Und er ging hinein und zog durch Jericho.

2 Und siehe, [da war] ein Mann mit Namen Zachäus, und der war ein Oberzöllner und war reich.

3 Und er suchte Jesus zu sehen, wer er sei; und er konnte es nicht vor der Volksmenge, denn er war klein von Gestalt.

4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, damit er ihn sehe; denn er sollte dort durchkommen.

5 Und als er an den Ort kam, sah Jesus auf und erblickte ihn und sprach zu ihm: Zachäus, steige eilends herab, denn heute muss ich in deinem Haus bleiben.

6 Und er stieg eilends herab und nahm ihn auf mit Freuden.

7 Und als sie es sahen, murrten alle und sagten: Er ist eingekehrt, um bei einem sündigen Mann zu herbergen.

8 Zachäus aber stand und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und wenn ich von jemand etwas durch falsche Anklage genommen habe, so erstatte ich es vierfach.

9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Haus Heil widerfahren, weil auch er ein Sohn Abrahams ist;

10 denn der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist.

 

Eine wunderbare Geschichte. Aber habt Ihr bemerkt, womit die Geschichte beginnt? Ja, natürlich erst mal mit der Zustandsbeschreibung dieser Welt, wie sie ist. Es gibt arme und reiche, kleine und grosse. So ist das nun mal und so bleibt es auch, sagte man damals und sagt man auch heute. Aber in diesen Zustand der Welt, abgebildet im Kleinen der Stadt Jericho, kommt Bewegung, als Jesus hindurchgeht. Die Menschen strömen herbei, um Jesus zu sehen. Er ist im Gespräch, man hat von ihm gehört.

Und dann gibt es da in der Menge einen, der will wirklich wissen, wer dieser Jesus ist, ist schrecklich neugierig auf ihn. Dabei sollte man denken, der hat es doch gar nicht nötig. Ein sehr reicher Mann. Sitzt direkt an der Geldquelle, am Stadttor, da wo die Durchgangssteuer eingezogen wird. Da kann man reich werden. Vor allem, wenn man nicht ehrlich ist. So ist das überall auf der Welt. Korruption ist nicht erst eine Erfindung der Neuzeit.

Und dieser Zachäus war offensichtlich skrupellos. War er deshalb so unbeliebt? Als Gauner stadtbekannt, dass ihn die Leute nicht durch liessen, immer eine Mauer bildeten, wo er vorüber kam? Mochte man ihn nicht, weil er zuviel Geld abknöpfte oder knöpfte er den Leuten zuviel Geld ab, weil sie ihn nicht mochten? Wo ist das Ei, wo das Huhn? Irgendwann kann man das gar nicht mehr sagen, wie es angefangen hat, wenn die Feindschaft sich erst einmal so tief in die Herzen eingefressen hat, dass sie das Denken bestimmt. Irgendwann wird auch jeder Streit ein Dauerbrenner, weil keiner mehr den Ausgang findet.

 

Der Ausgang beginnt dort, wo sich jemand bewegt, wo jemand einen unerwarteten Ausweg findet, an der Mauer vorbei, nicht durch sie hindurch, was nie gelingt. Sondern über sie hinweg. Wenn man klein ist, schaut man meistens nach oben. Da sieht Zachäus einen Baum. Nun ist Zachäus kein kleiner Junge mehr, der auf Bäume klettert. Ein gesetzter Mann in teurem Anzug ist er. Nein, von dem erwartet keiner, dass er so etwas Unerwartetes tut, wie auf einen Baum zu klettern. Er tut es.

 

Das Unerwartete zeigt verblüffende Wirkung. Wer Jesus kennen lernen will, der lernt ihn kennen! Jesus bleibt stehen. Er sieht Zachäus. Jesus sagt: komm wieder herunter. Jesus lädt sich selbst bei ihm zum Abendessen ein.

So war offenbar Jesus. Er reagierte unerwartet, wie vorher schon Zachäus.

Hätte er nicht auch sagen können: Liebe Leute, seid doch so nett und macht ein bisschen Platz, damit der Kleine da mich auch sehen kann? Oder irgendetwas anderes? Aber sich selbst zum Essen einladen? Das war bestimmt das allerletzte, womit Zachäus gerechnet hatte. Und die anderen ebenfalls.

 

Wie reagiert man auf solch überraschende Momente? Wenn etwas passiert, was wir nicht erwartet haben, erleben wir erst einmal eine Schrecksekunde. So schnell können wir nicht umschalten.

Nicht so Zachäus. Der steigt eilig vom Baum herab und nimmt Jesus und die Seinen freudig bei sich auf, heisst es. Das wird ihm nicht schwer gefallen sein, er führte sicher einen grossen Haushalt. Und wie reagieren die anderen, die an der Strasse, die Massen, die Normalbürger, bei denen Jesus sich nicht eingeladen hat? Hätte er nicht bei x Leuten unterwegs, die ihm huldigten, fragen können, ob er bei ihnen speisen dürfe?

Nein, ausgerechnet bei dem! Natürlich sind sie enttäuscht, neidisch, vielleicht sogar wütend. Hat Jesus sich nicht immer für die Armen eingesetzt? Er muss doch sehen, dass dieser Zachäus ein superreicher Kerl ist und dass er das nicht durch ehrliche Arbeit geworden ist. Hat sich Jesus hier nicht selber verraten?

 

Jesus lässt sie stehen mit ihrem kleinlichen Neid und geht an den wahrscheinlich reich gedeckten Tisch im Haus des Zachäus. Weiter tut er nichts.

Aber das reicht.

Es reicht, um die nächste unerwartete Überraschung zu produzieren. Von sich aus fängt Zachäus an zuzugeben, dass er ein schlechter Kerl ist, ein unehrlicher, korrupter Halsabschneider. Ein Sünder. Ob er das auch getan hätte, wenn Jesus ihn gefragt hätte: Sag mal, wie bist du eigentlich zu deinem Reichtum gekommen?

Wir können es nicht wissen. Und Jesus hat ihn ja auch nicht gefragt, sondern ist mit ihm in sein Haus gegangen. Vielleicht ist das ja Jesu Geheimnis: uns unerwartet begegnen und dann einfach Geduld haben?

Ein Vorgehen jedenfalls, das in Zachäus˜ Fall immer grössere und überraschendere Auswirkungen hat: "Die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben." Nicht 15% von meiner Einkommenssteuer als Kirchensteuer, oder den Zehnten, wie es in vielen Kirchen in der Welt Brauch ist, sondern die Hälfte vom ganzen Vermögen will er geben. Ob unsere Politiker wohl diese Geschichte kennen? Und begreifen würden? Und wir? Wie viel wären wir denn bereit zu teilen?

"Und wenn ich jemandem zuviel abgenommen habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück." Das nennt man heute "Wiedergutmachung". Wie wenn wir der Dritten Welt faire Preise für ihre Rohstoffe und Produkte garantieren und dazu vorgängig ihre Schulden bei uns erlassen würden.

Ich stelle mir vor, dass Jesus nach den Worten des Zachäus gelächelt hat. Und dann sagt er: "Diesem Haus ist heute Heil widerfahren." Heilung von all dem krankhaften Egoismus, dem Neid, der Feindschaft, dem Misstrauen und den Vorurteilen.

 

Erinnern wir uns: Diese ganze Abfolge von positiven Überraschungen begann damit, dass da einer neugierig auf Jesus war, ihn kennen lernen wollte. Es ging damit weiter, dass da einer überwältigt war von der bedingungslosen Liebe und Annahme, die er durch Jesus erfahren hat. Und am Ende war alles anders und er selbst wie verwandelt.

Und jetzt wir? Ein bisschen Zachäus haben wir wohl alle in uns “ im Negativen wie im Positiven. Und eigentlich könnte uns das Mut machen. Wo sonst sollte etwas anders werden, wenn nicht zuerst bei uns? Wir können nur um den Mut und die Phantasie bitten, im Hören auf Jesu Botschaft auch unerwartete und neue Wege zu finden, den Stillstand in den Beziehungen zwischen Menschen, die Mauern zwischen uns und anderen aufzubrechen, unverhoffte Auswege und Lösungen zu finden, uns verwandeln zu lassen und dadurch auch diese Welt ein Stück weit zu verändern.

Und gebe Gott seinen Segen darauf, dass sich solcherart Verwandlung ausbreite in uns und um uns herum “ sogar im Kreml! Amen.